Kapitel 3
FREITAG, 31. JANUAR 1902 – MITTERNACHT
Francesca schnappte nach Luft. Sie musste Georgette de Labouche wohl missverstanden haben. »Wie bitte?«
»Wir müssen die Leiche loswerden! Dazu benötige ich Ihre Hilfe. Und als Erstes müssen wir den Jungen wegschicken!«, rief Georgette in einem Tonfall, als wäre Francesca ein Einfaltspinsel.
Francesca wollte ihren Ohren nicht trauen. Dies war ihr erster offizieller Fall, und es war kein gewöhnlicher Fall, sondern ein Mord – das schlimmste aller Verbrechen. Ein Mensch war ums Leben gekommen, doch die fremde Frau bat sie nicht etwa darum, das Verbrechen aufzuklären, sondern sie wollte es mit Francescas Hilfe vertuschen. Das Ganze wäre wohl komisch gewesen, hätte nicht ein Mann ermordet zu ihren Füßen gelegen.
»Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe? Wenn ihn die Polizei hier findet, werden die mich doch sofort einbuchten!« Georgette schien einem hysterischen Anfall nahe zu sein.
Francesca tat einen tiefen Atemzug, um ihre Nerven zu beruhigen. Dann warf sie einen weiteren Blick auf den Toten zu ihren Füßen, und in diesem Moment hätte sich ihr beinahe der Magen umgedreht. Natürlich hatte sie schon Leichen gesehen, aber die waren mit ihrem Sonntagsstaat bekleidet gewesen und hatten in einem wunderschönen Sarg gelegen. »Miss de Labouche, wer ist der Mann? Haben Sie ihn umgebracht?«
»Sehen Sie! Selbst Sie glauben, dass ich es getan habe!« Georgette begann mit wogendem Busen in dem Zimmer auf und ab zu schreiten.
Francesca musterte den toten Mann etwas genauer. Sie schätzte ihn auf Anfang fünfzig. »Ist das da ein Loch in seinem Hinterkopf?«, fragte sie, während sie gegen den Drang ankämpfte, sich zu übergeben. »Ist er erschossen worden? Oder mit einem Knüppel erschlagen?«
Georgette fuhr herum. »Ich hätte Paul so etwas niemals angetan. Er war ein sehr, sehr lieber Freund.«
Francesca fiel auf, dass der Mann bis hin zu seinen glänzenden, geschnürten Halbschuhen ausnehmend gut gekleidet war. Er trug einen dunklen Wollanzug, und aus der dazu passenden Weste war eine goldene Taschenuhr herausgerutscht. Der Anzug, die Uhr und die Schuhe waren von einer sehr guten Qualität. Der Mann hatte seinen Mantel und den Hut zusammen mit einem Gehstock mit Silberspitze auf einem Sessel abgelegt. »Ein sehr, sehr lieber Freund«, wiederholte Francesca. »Waren Sie seine Mätresse?«
Georgette wurde nicht einmal rot. »Was denn sonst?«, gab sie zurück. »Werden Sie mir jetzt dabei helfen, die Leiche verschwinden zu lassen, oder nicht?«
»Jetzt wollen Sie sie sogar verschwinden lassen?« Francesca starrte die Frau mit offenem Mund an. »Miss de Labouche, dieser Mann hier ist keine Maus in einer Falle. Er ist ein Mensch und das Opfer eines schrecklichen Verbrechens. Wir müssen die Polizei verständigen. Ein Mann ist ermordet worden. Und allem Anschein nach kaltblütig, wie ich hinzufügen darf.«
»Natürlich war es kaltblütig!«, rief Georgette. Sie ließ sich stöhnend in einen roten Samtsessel sinken und verbarg das Gesicht in den Händen.
Francesca schritt zu Georgette hinüber und legte ihr beruhigend die Hand auf die mollige Schulter. »Es tut mir Leid, dass Sie einen solchen Verlust erleiden mussten«, sagte sie leise.
Georgette stöhnte erneut und sagte: »Ich wandere geradewegs ins Stadtgefängnis, so viel ist sicher!«
»Niemand hat Sie irgendeines Verbrechens beschuldigt, Miss de Labouche. Was ist denn eigentlich geschehen?« Francesca war sich bewusst, dass sie nicht viel Zeit hatte, um ihre Fragen zu stellen. Als eine wahrhaft ehrenwerte Bürgerin hätte sie ohnehin gleich loseilen und die Polizei verständigen sollen. Doch sie zog es vor, zunächst einmal ein paar Fragen zu stellen – bevor die Polizei ihre Ermittlungen aufnahm.
Einen Moment lang musste sie an Bragg denken, und es versetzte ihr einen Stich. Sie hatten recht eng zusammengearbeitet, um die Entführung von Jonny Burton aufzuklären, und Bragg hatte zugegeben – wenn auch widerstrebend –, dass Francesca ihm eine große Hilfe gewesen war. Ob sie wohl auch dieses neue, noch niederträchtigere Verbrechen gemeinsam aufklären würden?
Georgette blickte auf. »Ich war in der Badewanne«, begann sie zu erzählen. »Paul kommt jeden Dienstag und Freitag am Abend vorbei. Sein voller Name lautet Paul Randall«, fügte sie hinzu. »Ich habe gehört, wie er hereinkam. Zumindest nahm ich an, dass er es war. Ich habe darauf gewartet, dass er nach oben kommen würde, denn ich hatte eine Überraschung für ihn.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Eine Überraschung?«, fragte Francesca. Hätte sie doch nur einen Notizblock bei der Hand! Sie nahm sich vor, am nächsten Tag als Erstes das nötige Werkzeug für ihre neue Tätigkeit zu besorgen.
»Ich war in der Badewanne, Miss Cahill. Mit Champagner und ... einigen Dingen.«
»Oh!«, hauchte Francesca und erstarrte unwillkürlich. »Welcher Art von Dingen?«
Georgette blinzelte. »Spielzeug ... nun ja, Sie wissen schon.« Francesca hatte das Gefühl, als habe sich ihr Herzschlag verlangsamt. »Spielzeug? Ich verstehe nicht ...«
Georgette seufzte verzweifelt, schüttelte den Kopf und erhob sich. »Na, Spielzeug eben. Meine Güte, Ihr Frauen von Stand seid doch alle gleich! Kein Wunder, dass Männer wie Paul zu uns kommen! Erotisches Spielzeug, verstehen Sie? Dinge, die Lust verschaffen. Wenn Sie möchten, zeige ich sie Ihnen.« Sie blickte Francesca ein wenig verschämt an.
Francesca schluckte. Ihre Wangen brannten. Sie hatte gar nicht gewusst, dass solche Dinge überhaupt existierten. Wie würden sie wohl zu beschaffen sein und wie benutzte man sie? Ob Connie wohl irgendetwas über erotisches Spielzeug wusste? Francesca bezweifelte es, aber ihre Schwester war der einzige Mensch, den zu fragen sie wagen würde. »Ich verstehe«, sagte sie schließlich, wobei sie sich alle Mühe gab, forsch und professionell zu klingen. »Sie waren also in der Badewanne – und was geschah dann?«
»Einige Minuten vergingen, während ich dort mit dem Spielzeug verweilte.« Georgette warf Francesca ein kleines Lächeln zu, in dem sich eine Art Anzüglichkeit zu verstecken schien. Francesca war sich nicht ganz klar, was dies zu bedeuten hatte. »Ich kenne Paul gut und wusste, dass er schon bald zu mir kommen würde. Als er nicht kam, begann ich mir Sorgen zu machen. Und plötzlich vernahm ich einen durchdringenden, lauten Knall. Ich wusste sofort, dass es sich um einen Schuss handelte.«
Francesca sah Georgette allein in der Badewanne vor sich, umgeben von Kinderspielzeug – etwas anderes konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Dann riss sie sich zusammen. »Und?«, fragte sie.
»Ich stieg schnell aus der Wanne, zog einen Morgenrock über und lief laut nach Paul rufend nach unten. Als ich am Fuß der Treppe ankam, sah ich, dass die Haustür weit offen stand. Ich ging hin und schloss sie.«
Francesca kam ein Gedanke. »Was ist mit Ihren Dienstboten?«
»Donnerstags und freitags habe ich aus Gründen, die auf der Hand liegen, keine Dienstboten im Haus. Ich benötige meine Privatsphäre.«
»Gewiss«, erwiderte Francesca.
»Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, drehte ich mich um und bemerkte, dass die Tür zum Salon ebenfalls weit offen stand. Ich lief hin, und da sah ich ihn liegen. Oh Gott, es war so schrecklich! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schrecklich es war!« Sie stieß einen Laut aus, der einem Schluchzer ähnelte, und verbarg ihr Gesicht erneut in den Händen.
Francesca tätschelte ihr die Schulter. »Es tut mir so Leid.«
Georgette blickte mit tränenverhangenen Augen auf. »Wirklich?«
»Aber ja«, erwiderte Francesca leise und ernst. »Ein unschuldiger Mann ist getötet worden. Das ist ein scheußliches Verbrechen. Es tut mir schrecklich Leid, und ich verspreche Ihnen, Miss de Labouche, dass ich herausfinden werde, wer diese abscheuliche Tat begangen hat.«
»Ich möchte nur die Leiche verstecken«, erwiderte Georgette. »Paul ist tot und wird nicht wieder lebendig, wenn ich herausfinde, wer ihn ermordet hat.« Ihre Lippen begannen erneut zu zittern.
»Wir müssen es der Polizei mitteilen«, sagte Francesca mit fester Stimme. »Sie sind also zu ihm gelaufen? War er da noch am Leben? Hat er irgendetwas gesagt?«
Georgette schüttelte den Kopf und schloss kurz die Augen. »Er war schon tot. Seine Augen waren weit geöffnet und starr, und da war so viel Blut!« Sie stöhnte und schlug erneut die Hände vor das Gesicht.
Francesca blickte zu dem Toten hinüber. Seine Augen waren geschlossen. »Haben Sie ihn angefasst?«
Georgette nickte und flüsterte: »Ich habe seine Augen geschlossen. Ich musste es einfach tun!«
Francesca nickte und verschränkte die Arme. Sie ließ ihren Blick von dem toten Mann zu Georgette schweifen, die zusammengekauert auf dem Sessel saß und ein Bild des Jammers bot. Dann blickte sich Francesca in dem Salon um.
»Ist die Tür zum Flur der einzige Eingang zu diesem Raum?«, fragte sie.
Georgette nickte.
»Und Sie sind sich ganz sicher, dass Sie niemanden gesehen haben?«
Die Frau nickte erneut.
Francesca blickte auf die Uhr, die auf dem Kaminsims stand. Es war Viertel vor zwölf. Georgette hatte sie gegen halb zehn vor dem Madison Square Garden angesprochen, möglicherweise war es auch erst Viertel nach neun gewesen. »Um wie viel Uhr sind Sie in die Badewanne gestiegen?«, fragte Francesca. »Und wie lange haben Sie in der Wanne gelegen, bis Sie den Schuss hörten?«
»Ich erwartete Paul um sieben und habe gegen halb sieben begonnen, das Bad vorzubereiten. Er war immer sehr pünktlich. Also muss er um kurz nach sieben ermordet worden sein.«
»Miss Labouche, hat Mr Randall irgendwelche Feinde gehabt? Fällt Ihnen jemand ein, der ihn womöglich gern tot gesehen hätte?«
»Nur seine Frau«, erwiderte sie mürrisch.
»Die Frage war ernst gemeint«, gab Francesca zurück. »Ihre Antwort auch?«
Georgette de Labouche verzog das Gesicht. »Paul hatte keine Feinde. Er war nicht der Typ dafür, Miss Cahill. Er war früher Geschäftsführer einer Textilfirma und hat sich vor fünf Jahren aus dem Geschäftsleben zurückgezogen. Kurz danach haben wir uns kennen gelernt. Er war ein guter Mann. Sein Leben drehte sich um seine Kinder, seine Frau, seinen Club, das Golfspielen – und um mich.«
Francesca nickte nachdenklich. Dann seufzte sie. »Nun, ich werde später möglicherweise noch mehr Fragen an Sie haben, Miss de Labouche, aber für den Moment soll es genug sein. Jetzt muss ich die Polizei verständigen. Haben Sie ein Telefon?«
Georgette blickte sie verzweifelt an. »Die Polizei wird glauben, dass ich es getan habe. Ein solcher Mord wird doch immer der Mätresse in die Schuhe geschoben.«
»Ich glaube nicht, dass man Sie dafür verantwortlich machen wird«, erwiderte Francesca. »Wir müssen die Polizei verständigen. Es geht kein Weg daran vorbei.«
»Na schön«, sagte Georgette schließlich. »Ich habe kein Telefon. Während Sie unterwegs sind, werde ich nach oben gehen und versuchen, mich ein wenig zu beruhigen. Möglicherweise werde ich mich auch für einen Moment hinlegen.«
»Das halte ich für eine gute Idee«, erwiderte Francesca. Sie zögerte. Bragg wohnte ganz in der Nähe. Sollte sie auf der Straße nach einem Streifenpolizisten suchen oder lieber gleich zu Bragg laufen? Irgendwann würde er ohnehin von dem Mord erfahren.
Einerseits wäre es bestimmt besser, sofort zu Bragg gehen, denn sonst müsste sie sich erst mit den Fragen eines Streifenpolizisten herumschlagen, was die ganze Angelegenheit nur unnötig verzögern würde. Aber andererseits hatte Bragg ihr erst wenige Stunden zuvor eine Abfuhr erteilt, und die Aussicht darauf, erneut einen Fall gemeinsam mit ihm aufzuklären, sollte ihr eigentlich nicht reizvoll erscheinen.
»Ich werde Sie zur Tür begleiten«, sagte Georgette plötzlich und erhob sich.
Der Tonfall, in dem sie es sagte, erweckte Francescas Misstrauen. Immerhin hatte Georgette mindestens drei Mal gesagt, dass sie die Leiche beiseite schaffen wollte. Sicher wäre es besser, wenn Francesca im Haus bliebe und den Toten bewachte, während Joel loslief, um Hilfe zu holen. Andererseits war es nicht sehr wahrscheinlich, dass es der Frau in der halben Stunde, die bis zum Eintreffen des Commissioners vergehen mochte, gelingen würde, die Leiche wegzuschaffen und zu verstecken.
»Ich werde Joel zum Haus des Commissioners schicken. Er wohnt gleich um die Ecke«, verkündete Francesca und musterte Georgette aufmerksam. »Er ist ein guter Freund von mir«, fügte sie hinzu.
Georgette erbleichte und stürzte, ohne ein Wort zu verlieren und mit einem noch unglücklicheren Gesichtsausdruck als zuvor, aus dem Zimmer.
Sogleich kam Joel in den Salon gerannt. Offenbar hatte er die ganze Zeit über sein Ohr an die Tür gepresst und gelauscht. »Du heiliger Strohsack!«, rief er mit weit aufgerissenen Augen. »Der Kerl ist ja mausetot! Ihr erstes Verbrechen, Miss Cahill, und direkt 'ne Leiche!« Er grinste sie an. »Und ein richtiger feiner Pinkel noch dazu, wie's aussieht.«
»Ja, es scheint sich um einen Gentleman zu handeln«, erwiderte Francesca streng. »Joel, wenn du mein Gehilfe sein möchtest, musst du dir das Lauschen abgewöhnen.«
»Lauschen? Wie kommen Sie denn da drauf?«
»Du hast hinter der Tür gestanden und eine private Unterhaltung zwischen Miss de Labouche und mir belauscht«, sagte sie und trat auf ihn zu.
»Ich hab bloß auf Sie aufgepasst, Miss«, erwiderte er hitzig. »Das gehört mit zu meiner Arbeit.«
Sie blickte in seine beinahe schwarzen Augen und schmolz dahin. »Hast du das wirklich?«
Er nickte. »Haben Sie mal 'nen Blick in seine Geldbörse geworfen?«
Sie erstarrte. »Wir werden doch nicht die Geldbörse eines Toten stehlen!«
»Warum denn nich? Er ist doch hinüber. Er kann den Zaster eh nich mehr ausgeben!«
»Zaster?« Wenn sie sich mit Joel unterhielt, kam es Francesca manchmal so vor, als spreche er eine fremde Sprache.
»Er ist tot. Er hat nix mehr von seinem Geld.«
»Noch einmal: Wir werden keinen Toten bestehlen!«, rief Francesca verärgert. »Jetzt hör einmal genau zu, Joel. Morgen werden wir uns zusammensetzen und einige Regeln aufstellen – Regeln, die deine Anstellung betreffen. Aber jetzt läufst du erst einmal zum Commissioner und erzählst ihm, was geschehen ist. Sollte er nicht da sein, erzähle es Peter, seinem Butler.« Sie zögerte und blickte auf die Leiche auf dem Boden. Großer Gott, sie würde allein mit dem Toten zurückbleiben, während Joel fort war. Welch ein unbehaglicher Gedanke!
Aber Miss de Labouche war ja oben; sie wäre also gar nicht wirklich allein.
»Und beeil dich!«, fügte Francesca hinzu.
»Mach ich«, sagte Joel und wandte sich zum Gehen.
»Warte!« Sie hielt ihn an der Schulter zurück. »Weißt du überhaupt, wohin du gehen musst?«
Joel grinste sie an. »Klar doch. Madison Ecke Twenty-fourth Street.«
Sie starrte ihn verblüfft an. »Woher weißt du, wo Bragg wohnt?«
Er zuckte mit den Schultern. »Das weiß doch jeder. Ist kein Geheimnis. Keine Sorge, bin wie der Blitz wieder da«, gab er zurück und eilte davon.
Francesca stand bewegungslos da und beobachtete, wie er das Haus verließ. Plötzlich fühlte sie sich furchtbar allein.
Es war so still im Haus, dass sie das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims hören konnte. Zudem hatte sie das Gefühl, als ob der Tote seine Augen auf ihren Rücken gerichtet hätte, dabei wusste sie natürlich genau, dass er nicht mehr unter den Lebenden weilte.
Francesca hastete den schwach beleuchteten Flur entlang – wäre er doch nur etwas heller! –, froh, das Zimmer mit der Leiche verlassen zu können, und vergewisserte sich, dass die Haustür geschlossen war. Daraufhin fühlte sie sich bereits etwas besser. Dann öffnete sie die einzige andere Tür, die – abgesehen von der Salontür – vom Flur abging, einen Spaltbreit und blickte in ein kleines Esszimmer. Es lag im Dunkeln, und Francesca vermochte nur vage einen Esstisch und vier Stühle, ein Blumengesteck und eine Anrichte mit allerlei Nippes darauf auszumachen. Auf der anderen Seite des kleinen Raums musste sich die Küche befinden. Francesca zögerte.
Falls es eine Tür gab, die von der Küche nach draußen führte, so sollte sie überprüfen, ob diese verschlossen war. Francesca spürte, dass sie nervös wurde. Immerhin bewachte sie die Leiche eines Mannes, der weniger als fünf Stunden zuvor ermordet worden war.
Mit der Hand an der Klinke der Esszimmertür blickte Francesca sich zu der Treppe um. »Miss de Labouche?«, rief sie nach oben.
Keine Antwort.
»Georgette?«, versuchte sie es wieder, doch mit ebenso wenig Erfolg.
Francesca schaute über die Schulter in den Salon zurück, wo noch immer der Tote in der Blutlache auf dem Boden lag. Ihre Nervosität wuchs.
Dann atmete sie tief durch und hastete durch das kleine Esszimmer in die Küche. Dabei versuchte sie nicht daran zu denken, dass sich Pauls Mörder möglicherweise noch im Haus befinden konnte. Es gab kein elektrisches Licht, und so dauerte es einen Moment, bis Francesca eine Gaslampe entzündet hatte. Sie blickte sich in der Küche um und stellte fest, dass es in der Tat eine Hintertür gab, die aber verschlossen war.
Als Francesca gerade vor Erleichterung seufzen wollte, hörte sie plötzlich ein Geräusch.
Instinktiv löschte sie das Licht wieder und ging neben der Tür, die ins Esszimmer führte, in die Hocke. Die Tür vom Esszimmer zum Flur hatte sie nicht geschlossen, sodass sie einen Teil des Flurs sehen konnte.
Wieder vernahm sie ein Geräusch, und dieses Mal war sie sich sicher, dass es die Haustür war, die gerade vorsichtig geschlossen wurde.
Francesca, die mittlerweile vor Aufregung schwitzte, kauerte sich unwillkürlich ganz klein zusammen. Joel war erst seit ungefähr fünf Minuten fort, also konnte er auf keinen Fall schon wieder zurück sein – ob allein oder mit Bragg –, und außerdem hätten die beiden bestimmt geklopft.
Als sie das Knarren der Dielenbretter vernahm, begann sie erneut zu zittern.
Irgendjemand schien das Haus betreten zu haben und war jetzt im Flur. Und derjenige war offenbar im Besitz eines Schlüssels.
Francesca hörte leise Schritte.
Obwohl sie vor Angst beinahe ohnmächtig wurde, wollte sie unbedingt herausfinden, wer der Eindringling war. Vorsichtig spähte sie um den Türpfosten der Küchentür herum und zur Esszimmertür, gerade rechtzeitig, um die Silhouette eines Mannes zu erblicken, der den Flur entlangschritt.
Francesca wich zurück. Sie hörte, wie der Mann stehen blieb und einen kaum hörbaren Fluch ausstieß. Dann blieb es für einen Moment still. Ob der Mann wohl gerade den Toten anstarrte?
Dann kehrte der Fremde schnellen Schrittes zurück. Francesca wagte nicht, ein weiteres Mal um die Ecke zu schauen, obwohl sie es nur zu gern getan hätte. Aus Angst, dass der Eindringling ihre Gegenwart spüren und ihr Versteck in der Küche entdecken könnte, hielt sie den Atem an.
Als sie hörte, wie die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde, sprang Francesca auf, rannte ins Esszimmer, schob die Vorhänge zur Seite und spähte mit heftig klopfendem Herzen auf die Straße hinaus. Ein hübscher Gig fuhr gerade von der Bordsteinkante weg, und Francesca sah, dass außer dem Kutscher niemand darin saß. Doch der Mann war leider zu weit entfernt, als dass sie sein Gesicht hätte erkennen können.
Francesca starrte dem Wagen nach. Wer zum Teufel war da gerade in Georgette de Labouches Haus spaziert, um einen Blick auf ihren toten Liebhaber zu werfen? Wer würde so etwas tun und dann, ohne ein Wort zu sagen, einfach wieder verschwinden?
Was in aller Welt ging hier vor sich?
Francesca eilte in den Salon zurück. Sie hatte den Schreck überwunden, war aber ausgesprochen verwirrt. Warum hatte der Eindringling nicht um Hilfe gerufen? Warum hatte er nicht versucht, Georgette zu finden? Hatte er etwa damit gerechnet, Paul tot auf dem Boden im Salon vorzufinden?
Sie blickte zuerst auf den Toten und dann zur Uhr auf dem Kaminsims. Es war Viertel nach zwölf; wenn Bragg zu Hause gewesen war, müsste er jeden Moment hier eintreffen. Francesca atmete tief durch.
Jetzt, da der Moment der Gefahr vorüber war, funktionierte ihr Verstand wieder, und sie begann sich Fragen zu stellen. Waren Pauls Frau, seine Kinder, sein Golfspiel, sein Club und seine Mätresse wirklich sein Lebensinhalt gewesen? Ob er nicht doch Feinde gehabt hatte? All dies waren sehr wichtige, für die Untersuchung entscheidende Fragen. Nachdenklich starrte sie auf die Leiche. Obwohl sie wusste, dass sie am Tatort eigentlich nichts anrühren sollte, trat Francesca langsam auf die Leiche zu. Dies war schließlich ihr erster Fall, und sie hatte vor, ihn zu lösen – und zwar allein! Vorsichtig schlug sie das Jackett des Mannes zurück und entdeckte eine Wölbung in seiner Hosentasche. Eine Geldbörse – die würde ihr gewiss weiterhelfen.
Sie versuchte, an die Hosentasche zu gelangen, musste aber feststellen, dass es äußerst schwierig war, dabei nicht in das bereits trocknende Blut auf dem Boden zu treten. Bragg entging selten etwas, und Francesca wollte nicht, dass er merkte, dass sie den Toten berührt hatte. Schließlich gelang es Francesca, mit zwei Fingern in die Hosentasche des Mannes zu gelangen. Sie spürte das harte Leder der Geldbörse zwischen ihren Fingerspitzen.
Mit einem Gefühl des Triumphes zog sie die Börse aus der Hosentasche. Doch das Lächeln verging ihr rasch, als sie ihr im selben Moment aus den Fingern glitt und in die Blutlache fiel. »Verflixt noch mal!«, entfuhr es ihr.
Francesca erstarrte. Wie laut ihre Worte in Gegenwart des Toten geklungen hatten! Sie schluckte, griff nach der Börse und stand auf. Dann blickte sie sich um, entdeckte aber nichts, womit sie das Blut hätte abwischen können, und öffnete seufzend die Börse.
Außer einer Menge Bargeld, dem Francesca keine Aufmerksamkeit schenkte, steckten mehrere Visitenkarten in der Börse. Auf der ersten stand:
MR PAUL RANDALL
89 EAST 57th STREET
NEW YORK CITY
Francesca wagte es nicht, die Karte an sich zu nehmen, und prägte sich stattdessen die Adresse ein. Als sie anschließend einen Blick auf die anderen Visitenkarten warf, entfuhr ihr ein Keuchen. Auf der letzten Karte stand:
CALDER HART, PRÄSIDENT
HART INDUSTRIES & SHIPPING CO.
NO. 1 BRIDGE STREET
NEW YORK CITY
Unten auf die Karte hatte jemand eine weitere Adresse gekritzelt, die Francesca aber nicht genau entziffern konnte. Es war entweder 973 oder 978 Fifth Avenue.
Francesca starrte die Visitenkarte an, als könne sie ihr verraten, warum sie sich in der Geldbörse des Toten befunden hatte. Offenbar war Paul Randall Calder Hart mindestens ein Mal in seinem Leben begegnet.
Ob sie wohl geschäftlich miteinander zu tun gehabt hatten? Oder waren sie gar Freunde gewesen?
Francesca hörte, wie die Haustür geöffnet und dann zugeknallt wurde. Dann eilten offenbar mehrere Personen mit großen Schritten den Flur entlang.
Ohne zu zögern, steckte sie Calder Harts Visitenkarte in das Mieder unter ihrer Kostümjacke und beförderte Paul Randalls Geldbörse rasch zurück in dessen Hosentasche. Sie konnte nur hoffen, dass sie damit nicht die Arbeit der Polizei behinderte, wie Bragg es ihr schon einmal vorgeworfen hatte. Dann stand sie auf und trat von der Leiche zurück. In diesem Augenblick kam auch schon Bragg zur Tür hereingestürzt.
Er blieb wie angewurzelt stehen und blickte zuerst Francesca und dann die Leiche an. Sein Gesichtsausdruck spiegelte eine Mischung aus Wut und Resignation wider.
»Da ist der Kerl«, sagte Joel fröhlich, drückte sich an Bragg vorbei und blieb zwischen Francesca und dem Toten stehen. Er deutete auf die Leiche. »Kalt wie 'ne Hundeschnauze.« Er grinste.
Braggs persönlicher Dienstbote Peter, ein großer, kräftiger Kerl, stand hinter dem Commissioner. Er war knapp zwei Meter groß, wog wohl an die hundertzehn Kilogramm und glich eher einer Leibwache als einem Kammerdiener. Francesca war bereits früher zu dem Schluss gelangt, dass er ein Alleskönner war.
Ihr Blick begegnete Braggs.
»Ich kann das erklären«, sagte Francesca rasch.
Bragg presste die Lippen aufeinander. Sein Gesicht hatte einen harten, gefährlichen Ausdruck angenommen. »Und es ist gewiss eine sehr gute Erklärung«, sagte er schließlich. »Daran hege ich nicht den geringsten Zweifel.«